Jessi ist 16 Jahre alt und Brasilianerin.
Vor zwei Jahren erst kam Jessi nach Hamburg zu ihrem Vater. Aufgewachsen ist Jessi im Süden Brasiliens -die ersten fünf Jahre bei ihrer Oma, die nächsten neun Jahre bei ihrer anderen Oma. Jessis Papa lebt seit vielen Jahren in Hamburg. Hier hat er eine „neue“ Familie mit einer Frau und zwei Kindern. Der Kontakt zum Vater war durch Besuche, Facebook, Chats und Telefonate gut und regelmäßig. In Jessi wuchs der Wunsch, zum Vater nach Hamburg zu ziehen, und auch die beiden Großmütter unterstützten sie dabei, diese Pläne umzusetzen. 2019 packte sie als 14- jähriges Mädchen ihre Koffer, stieg ins Flugzeug und reiste in eine ungewisse Zukunft in ein fremdes Land.
Zwei Jahre später ist Jessi ein starkes, selbstbewusstes Mädchen mit vielen Freundinnen. Sie besucht die internationale Klasse in ihrer Schule, wo sie mit anderen jungen Menschen mit ähnlichen Herausforderungen und Schwierigkeiten zusammen ist. Das Ankommen in einem neuen Land zu Beginn der Corona- Pandemie war eine große Herausforderung.
Jessis größte Schwierigkeit ist das Zusammenleben mit ihrem Vater. Was sich aus der Ferne als starke Sehnsucht zeigte, fühlte sich in der Wirklichkeit in Hamburg ganz anders an. Vater und Tochter waren das Zusammenleben nicht gewöhnt.
Jessis Vater ist ein strenger Mensch, emotional distanziert und gleichzeitig sehr besorgt um seine Tochter. Besorgt, dass ihr etwas passieren könne, besorgt, dass sie sich fremd fühle und nicht integriere. Besorgt, dass sie keinen Schulabschluss schaffe. Weil er unsicher und besorgt ist, setzt er starke und starre Regeln, verbietet seiner Tochter Ausgang, nimmt ihr regelmäßig das Handy ab.
Jessi haut von zu Hause ab, schläft bei Freundinnen und zwei Nächte sogar am Hamburger Flughafen. Dort ist es warm, dort fühlt sie sich sicherer als auf der Straße.
Die Beratungslehrerin in der Schule hat eine Idee.
Jessi vertraut sich ihrer Beratungslehrerin an. Die Lehrerin berichtet Jessi von der Möglichkeit, einen Familienrat zu machen.
Sich mit ihrem Vater an einen Tisch zu setzten - das erscheint Jessi nicht als besonders erfolgsversprechend. Aber dass sie zu ihrem Familienrat auch Freunde einladen darf und die nette Beratungslehrerin ihrer Schule dabei ist, das ermutigt sie. Sie nennt das geplante Treffen ihren "Zukunftsrat".
Bei ihrem Zukunftsrat hat Jessi auch ihre Oma aus Brasilien dabei via FaceTime, dem Chat auf ihrem iPhone. Die Oma ist schließlich der Mensch, dem sie vertraut, und der sie am besten kennt. Außerdem dabei sind zwei Freundinnen, ihr Papa, seine Frau und ein Bruder.
Die Lehrerin formuliert ihre Sorge um Jessi und den Auftrag an den Zukunftsrat, denn sie macht sich große Sorgen um Jessi. Sie möchte, dass die Familie einen sicheren und guten Plan macht, in dem Jessis Wohl im Mittelpunkt steht. Die Familie sollte planen, wer was dafür tun kann, dass Jessi nicht mehr von zu Hause weglaufen muss, sondern sich gut aufgehoben in ihrer „neuen“ Familie in Hamburg fühlt.
Jessis Zukunftsrat findet statt.
Zu Beginn des Familienrats ist eine Dolmetscherin dabei, damit sich die Lehrerin, die Freundinnen und die Familie von Jessi verstehen. Auch für die Oma in Südamerika ist es wichtig, dass sie die Lehrerin hört und versteht. Auch sie will Rückfragen an die Lehrerin stellen.
Die Familie macht einen Plan. Als die Lehrerin und die Koordinatorin zur Familie zurückkommen, wirken alle sehr angestrengt, aber auch entspannt. Es sind viele konkrete Ideen und Maßnahmen geplant, die das Wohl und die Entwicklung von Jessi im Fokus haben. Jessi übersetzt ihren Plan selbst, damit ihre Lehrerin ihn versteht:
Ihr Vater verabredet mit Jessi, dass sie gemeinsam zu einer Beratungsstelle gehen und sich dort zu ihren konfliktreichen Themen (Regeln, Ausgang, Handy) beraten lassen. Jessis Stiefmutter steht den beiden zur Seite. Sie formuliert in diesem Treffen ganz ausdrücklich, dass Jessi sehr herzlich willkommen sei und sie einen festen Platz in der Familie habe.
Die Großmutter aus Brasilien verabredet mit ihrer Enkelin einen wöchentlichen Termin zum Videocall FaceTime, damit sie in einer guten Verbindung bleiben und Jessi ihre Sorgen und Probleme mitteilen kann.
Die beiden Freundinnen stärken im Zukunftsrat Jessi den Rücken und bieten ihre Hilfe und Freundschaft an.
Mit diesem Zukunftsrat ist Jessi ein Stück weiter in Hamburg angekommen und ist gleichzeitig ihre Verbindung zu ihrer Heimat in Brasilien gestärkt.
(Story vom Familienratsbüro Wandsbek Hamburg, Maiken Liß)